Europaabgeordnete der sechs EU-Gründungsstaaten verurteilen die fortschreitende Dekonstruktion des europäischen Projekts im Namen des unhinterfragten Freihandels
Nach den Debatten um den möglichen Brexit steht nun TTIP auf der Tagesordnung: Die 12. Verhandlungsrunde über das transatlantische Freihandelsabkommen wurde an diesem Montag, den 22. Februar, in Brüssel eröffnet. Zusätzlich zu den selbstverständlich nicht zu vernachlässigenden technischen Fragen (wie technischen Handelshemmnissen, gesundheitlichen Maßnahmen und Maßnahmen zum Pflanzenschutz), die in dieser Woche behandelt werden, hat die Europäische Kommission beschlossen, die berühmt-berüchtigten Schiedsgerichte wieder auf den Tisch zu packen.
Besprochen wird in diesen Verhandlungen jedoch auch - um uns scheinbar entgegenzukommen - die neu gestaltete und überarbeitete Version der Investitionsgerichtsbarkeit, die den privaten Schiedsgerichten (Investor-Staat-Streitbeilegung) entgegenstehen soll. Letztere waren abgesehen davon bereits durch die Verhandlungen vom Januar 2014 aus den Verhandlungen entfernt worden. Jedoch sieht man hier leider den Wald vor lauter Bäumen nicht. Während wir in Bezug auf die Verhandlungen um TTIP lediglich "in der Phase der Verhandlungen" sind, ist sein kleiner Bruder CETA - auch umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen genannt - , welches am 26. September 2014 von der EU und Kanada beschlossen wurde, im Begriff von den 28 Mitgliedstaaten angenommen zu werden.
Jenseits des "Putsches in einem demokratischen Staat", der an dieser Stelle zu Recht angeprangert wird, stellt sich in diesem Fall auch die Frage nach der Rolle der EU-Exekutive. Die Europäische Kommission, die sich eigentlich als Garantin für das Allgemeinwohl der EU einsetzen sollte, verhält sich heute eher wie ein Piratenschiff. Von richtungsweisenden Handlungen in diesem Sinne findet sich keine Spur. Der quasi bedingungslose Freihandel, den die Kommission durchsetzen will, bleibt ein dogmatisches Credo. Seine positiven Auswirkungen wurden bisher in keinster Weise bewiesen, zerstören aber jeden Tag ein Stückchen des europäischen Projekts. Wir kommen nicht umhin festzustellen, dass durch die Reduzierung auf Zahlen und Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr viel vom Projekt der Gründerväter der Europäischen Union überleben kann.
Während die Junker-Kommission als "politische" und nicht als "juristische" Kommission agieren wollte, gewinnen wir den Eindruck, dass uns von ihr dieselbe Intransparenz und Zahlenfixierung auferlegt werden, wie bereits von der vorherigen Kommission. Es überrascht uns deshalb kaum, dass die europäischen Bürgerinnen und Bürger den Glauben an die EU nach und nach verlieren, und die extremen politischen Strömungen immer mehr an Zulauf gewinnen.
Es ist daher Zeit, dass die Europäische Kommission aufhört, sich auf ihre normative Funktion zu konzentrieren und aus ihrer Rolle als kleiner Buchhalter heraustritt, um endlich eine kraftvolle Instanz für neue Vorschläge zu werden. Die Freihandelsabkommen, die sie um jeden Preis fördert, sind nichts anderes als die Anwendung des Ansatzes der britischen Regierung auf das europäische Projekt als Ganzes: ein Europa à la carte und des kleinsten gemeinsamen Nenners, in dem die Wirtschaft die Politik und der Nationalismus die europäische Identität dominiert. Die Angst vor dem Anderen, und das momentan fast legitime Misstrauen der Bürgerinnen und Bürger Europas gegenüber der EU, muss in eine Chance verwandelt werden. Diese Chance muss genutzt werden, um mit den Mitgliedstaaten, die dies wollen, ein echtes europäisches Projekt zu definieren.
Länder, mit denen die EU über Freihandelskommen verhandelt, dürfen in keinem Fall das europäische Projekt und Modell untergraben. Wir können uns nicht in Abhängigkeit von anderen definieren. Zu einer Zeit, in der die internationale Situation so bedrohlich ist, wie sie es noch nie seit Beginn der europäischen Gemeinschaft war, muss sich Europa auf seine Hauptfunktion besinnen. In Fortsetzung ihrer Geschichte und mit noch nie dagewesenen Herausforderungen konfrontiert, braucht die Welt eine EU, die ihre Rolle als stabilisierende Macht mit Kraft und Überzeugung übernimmt. Und wir Europäerinnen und Europäer wissen nur zu gut was bereits Hannah Arendt meinte, als sie von der Banalität des Bösen schrieb. Die europäische Idee macht heute mehr Sinn denn je. Europa muss sich wieder auf das besinnen, was es bereits früher war: eine politische Kraft im Dienst der Solidarität zwischen den Völkern.
Eric Andrieu (Frankreich) Maria Arena (Belgien) Agnes Jongerius (Niederlande) Maria Noichl (Deutschland) Elly Schlein (Italien) Claudes Turmes (Luxemburg)