Ein Kommentar von Maria Noichl, MdEP: Europa im Zeichen von Corona - eine Frage der Solidarität

07. April 2020

„In der Krise beweist sich der Charakter.“ Das Zitat von Helmut Schmidt ist in diesen Tagen in vielen Artikeln zu lesen. Der Ausbruch des Coronavirus Covid-19 hat in Europa in fast allen Regionen das Alltagsleben zum Stillstand gebracht. Anstatt einer europäischen Lösung sehen wir ein europäisches Potpourri an Einzelmaßnahmen. Anstatt europäischer Solidarität scheinen die europäischen Mitgliedstaaten in Kleinstaaterei zu verfallen. Die Charakterprobe haben sie damit nicht bestanden. Jeder Mitgliedstaat scheint sein eigenes Rezept bei der Bekämpfung der Gesundheitskrise zu haben.

Während in Schweden und den Niederlanden relativ laxe Verhaltensregeln gelten, gibt es in Italien und Spanien, die bisher mit Abstand am schwersten unter der Gesundheitskrise zu leiden haben, ein komplettes Ausgehverbot. Meine Heimat ist mittlerweile ein sogenannter Corona Hotspot. Das Virus hält die Welt in Atem und dies wird, nach allem was wir bisher wissen, wahrscheinlich noch so lange dauern, bis ein entsprechender Impfstoff oder wirklich effektive Medikamente gegen das Virus gefunden wurden.

Die Kritik, die in diesen Tagen im Zusammenhang mit der Krisenbewältigung an der Europäischen Union laut wird, scheint durchaus verständlich: Warum gibt es keine gemeinsame Linie? Haben wir nicht mit der EU oder gar der UN die richtigen Institutionen, um ein solches Virus auf globalem Niveau zu bekämpfen? Grenzen stellen keine effektive Bekämpfung dar. Institutionell gesehen kann die EU jedoch auch kein bestimmender Player sein. Das hat damit zu tun, dass Gesundheitspolitik eine Kompetenz der Nationalstaaten geblieben ist. Die Mitgliedstaaten haben sich dagegen entschieden, diesen Bereich zu vergemeinschaften. Dies rächt sich jetzt. Denn die EU kann hier einzig und alleine koordinierend tätig werden, wie zum Beispiel in Form von der europäischen Seuchenbehörde mit Sitz im schwedischen Solna. Das ECDC (European Centre for Disease Prevention and Control) ist mit einem jährlichen Budget von 60 Millionen, das in etwa dem des Robert-Koch-Instituts (RKI) entspricht, nicht in der Lage in Europa eine ähnlich zentrale Rolle zu spielen, wie es das RKI hierzulande tut.

Dennoch, dass alle europäischen Mitgliedstaaten derart die Scheuklappen aufgesetzt haben, hat auch mich überrascht. Jede und jeder schien erst einmal für sich selbst zu kämpfen. Dies erinnert an die Situation in den USA, wo Bundesstaaten landesweit gegeneinander in einen Bieterwettbewerb um überlebenswichtige Krankenhausmaterialien treten, um diese zu ersteigern. Ähnliches praktizierten die europäischen Mitgliedstaaten: Export von Krankenhausmaterial wird verboten und/oder innerhalb des jeweiligen Landes beschlagnahmt und im Ausland versuchen die Nationalstaaten sich gegenseitig beim Einkauf von Schutzmasken zu überbieten. Hier wäre ein europäisches Krisenmanagement hilfreich. In diesem Fall lohnt es sich über den Atlantik zu schauen. Denn die amerikanische Regierung hat theoretisch die Möglichkeit, Schutzmaterial für Krankenhäuser aufzukaufen und zu sammeln und dann schnellstmöglich in die Ecken des Landes zu verteilen, wo diese zu diesem Zeitpunkt am nötigsten sind. Gerade in der Coronakrise, die wellenförmig verläuft, könnte man überlebenswichtige Beatmungsmaschinen und Krankenhausmaterial auf dem Kontinent von einem ins andere Land transportieren, um bei den jeweiligen Hotspots direkt helfen zu können.

Ich freue mich, dass sich die Mitgliedstaaten nun aber langsam untereinander solidarisieren. Deutschland hat bereits mehrere PatientInnenen aus Italien und Frankreich aufgenommen. Viele Mitgliedstaaten haben sich gegenseitig mit Schutzmaterial für Krankenhäuser ausgeholfen. Die Europäische Kommission hat Ausnahmen vom Stabilitäts- und Wachstumspakt beschlossen, Gelder für Staatshilfen und Forschung bereitgestellt und vieles mehr. Kürzlich hat die EU-Kommission sogar begonnen, Material für Krankenhäuser aufzukaufen und dieses an Mitgliedstaaten zu verteilen. 90 % der Kosten werden dabei von der EU-Kommission übernommen. Das Europäische Parlament hat Gelder aus den Strukturfonds freigemacht, die nun von den Mitgliedstaaten in der Krise genutzt werden können. Die Gelder können Hebelwirkungen von bis zu 40 Milliarden Euro haben.

Gleichzeitig muss bereits jetzt mit den wirtschaftlichen Folgen der Krise gekämpft werden. Es ist absehbar, dass die Covid-19-Ausbreitung schwerwiegendere wirtschaftliche Folgen haben wird als die letzte Wirtschafts- und Finanzkrise. Auch hier wird es schwierig sein, auf europäischer Ebene eine gemeinsame Antwort zu finden. Schließlich kann man mit einem Haushalt, der in etwa doppelt so groß ist wie der Nordrhein-Westfalens, keine Konjunkturpolitik für ganz Europa machen. Wir haben dennoch die Chance, ein besseres Bild abzugeben als in der letzten Wirtschaftskrise. Anstatt Troika und Austerität wünsche ich mir europäische Solidarität im Sinne von europäischen gemeinsamen Anleihen. Damit können wir unseren europäischen Partnerinnen und Partnern bei der Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen helfen und verspieltes Vertrauen aus dem letzten Jahrzehnt teilweise wieder gut machen. Denn in Mitgliedstaaten wie Italien und Spanien haben die Menschen noch heute mit den Folgen der letzten Wirtschafts- und Finanzkrise zu kämpfen. Wann, wenn nicht jetzt, sollten wir als EuropäerInnen zusammen stehen?

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