Seit dem Tag nach dem britischen Referendum vor vier Jahren wird viel über den möglichen Ablauf und die potentiellen Auswirkungen des Brexits diskutiert und spekuliert. Dabei wird ein entscheidender Punkt in der männlich dominierten Debatte - die in den Medien und Parlamenten gehörten Stimmen waren zumeist männlich - jedoch meist übersehen oder gar ausgeblendet: Was bedeutet der Brexit für mehr als die Hälfte der britischen Bevölkerung? Was bedeuten er und seine Folgen für die Frauen in Großbritannien?
Derzeit befindet sich Großbritannien in Sachen Gleichstellung im Vergleich der europäischen Mitgliedstaaten auf Platz fünf (Quelle: EIGE). Jedoch bemerken wir auch hier in einigen Bereichen Rückschritte. Die tatsächliche und vollständige Gleichstellung der Geschlechter ist in Großbritannien alles andere als eine sichere Sache - und wird wohl durch die Folgen des Brexits zusätzliche Rückschläge kassieren. Viele der derzeitigen Rechte zur Anti-Diskriminierung und Gleichstellung basieren zudem auf EU-Recht und sind damit nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU nicht nachhaltig gesichert.
Daher schlagen Frauenrechtsorganisationen im Land Alarm und fordern die bisherige Aussage der Regierung heraus, der Brexit und seine Auswirkungen seien geschlechtsunabhängig. Es ist dringend notwendig, diesen Organisationen und Denkfabriken zuzuhören, um sicherzustellen, dass Vorbereitungen getroffen werden, um die negativen Auswirkungen auf Frauen zu verhindern oder zumindest abzufedern. Dabei unterscheiden führende Organisationen Auswirkungen vor allem auf zwei Ebenen: Rechte und Gesetze sowie die sozioökonomische Situation der Frauen.
Rechte und Gesetze
Derzeit beruhen viele der in Großbritannien existierenden Gesetze im Bereich der Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik auf EU-Gesetzgebung. Dazu gehören auf der einen Seite Richtlinien, wie zum Beispiel zur Beseitigung des Menschenhandels oder des gender pay gaps sowie zum Schutz der Rechte von schwangeren Arbeitnehmerinnen. Hinzu kommen auf der anderen Seite rechtliche Grundlagen und Werte, wie der Wert der Gleichheit und die Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern (Artikel 2 und Artikel 3 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union (EUV)). Diese Ziele sind zudem in Artikel 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert, die seit mehr als zehn Jahren für die Mitgliedstaaten verbindlich ist. Die Grundrechtecharta regelt zudem die Gleichstellung und Nicht-Diskriminierung auf Grund des Geschlechts, aber auch der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung.
Die Durchsetzung dieser Rechtsvorschriften wird durch den Europäischen Gerichtshof geregelt, der jedoch nach dem Brexit keine rechtsüberprüfende Kompetenz mehr über die Gesetze in Großbritannien haben wird. Damit wird den Frauen vor Ort ein wichtiger Schutzschirm entzogen werden. Denn die Auslegung und Klarstellung der Gesetze wird dann wieder eine rein nationale Angelegenheit. Damit einher geht nach Aussage einiger Organisationen die Angst, wie diese Rechte in Zukunft ausgelegt werden könnten.
Nationale Gerichte vor Ort sind nicht für ihre progressive Art bekannt. Und das Recht auf Gleichstellung ist in Großbritannien nicht von einer Verfassung gesichert.
Im Protokoll des Rückzugabkommens verpflichtet sich das Vereinte Königreich lediglich zur Sicherung der Rechte von sechs europäischen Richtlinien. Diese gehen zwar vom Grundsatz der Gleichbehandlung beim Zugang zu Dienstleistungen und Gütern bis hin zur Chancengleichheit und Gleichbehandlung auf dem Arbeitsmarkt, decken bei weitem aber nicht alles ab.
Der Austritt aus der EU hat zwar nicht zur Folge, dass die anderen von Großbritannien übernommenen Rechtsvorschriften automatisch unwirksam werden, aber bietet dem Land die Möglichkeit, diese zu überarbeiten, ohne dabei gewisse Mindeststandards, die vorher garantiert werden mussten, weiterhin zu garantieren. Rückschritte sind in Zukunft also erlaubt. Diese Angst mag für viele übertrieben klingen, ist aber leider nicht ganz unbegründet, betrachtet man das bisherige Verhalten der letzten britischen Regierungen in den Verhandlungen über die neusten Gleichstellungsrichtlinien der EU.
Dabei haben sie sich beispielsweise im letzten Jahr in den Verhandlungen rund um die Vereinbarkeitsrichtlinie für weitaus weniger ambitionierte Ziele eingesetzt und somit die Annahme einer weiterreichenden Richtlinie verhindert. Und das, obwohl diese Richtlinie auf Grund des Brexits nun nicht einmal in britisches Recht übernommen werden muss. Auch bei der Blockade der Richtlinie zur Quote in Aufsichtsräten spielt Großbritannien eine große Rolle. Meine Sorge ist, dass zusätzlich zu der zurückhaltenden und wenig progressiven Haltung der derzeitigen Regierung, vermutlich auch der zunehmende wirtschaftliche Druck eine Rolle spielen wird. Auch das Fehlen des Drucks, der in der Vergangenheit durch sogenannte peer pressure im Verbund der EU-Mitgliedstaaten aufgebaut werden konnte, und ab der nächsten Woche fehlt, kann sich in Zukunft negativ auf die Ambitionen des Vereinten Königreichs auswirken. Das Risiko, hinter die bisherigen Standards zurückzufallen und weiterem Fortschritt eine Absage zu erteilen, ist damit mehr als real.
Dazu kommt die Sorge, dass der Einfluss von Frauenrechtsorganisationen und anderen Verbänden in Zukunft nicht mehr reichen könnte, um Schwachstellen und Handlungsbedarf aufzuzeigen: Die Sparpolitik, die vermutlich in den nächsten Jahren weitergeführt werden wird, hat die Handlungs- und Schlagkraft der Organisationen bereits nachhaltig geschwächt. Und auch die sich reduzierende Einbettung in europäische und globale Netzwerke wird ihre Spuren hinterlassen.
Sozioökonomische Auswirkungen
Derzeit gehen viele Berechnungen von einem rückläufigen Bruttoinlandsprodukt für das Königreich aus. In den nächsten Jahren wird in Großbritannien wohl keine Abkehr vom Sparkurs zu erwarten sein. Da dieser bereits seit 2010 anhält, und Frauen seither in besonderem Ausmaß von den Sparmaßnahmen betroffen sind, ist zu erwarten, dass diese Belastungen auch weiterhin anhalten bzw. zunehmen.
So sind ein Arbeitsplatzabbau, der Druck auf die Gehälter und Renten sowie auf den Gesundheits-, Kultur- und Sozial-Bereich nicht auszuschließen. Frauen sind hier bereits jetzt schlechter gestellt und werden weitere Einschnitte stärker spüren. Sie sind zudem als Hauptnutzerinnen von öffentlichen Dienstleistungen (z.B. Betreuung von Kindern und anderen Angehörigen), Arbeitnehmerinnen im öffentlichen Dienst, aber auch im Niedriglohnsektor sowie als unbezahlte Hauptverantwortliche für Familienarbeit (zum Beispiel in der Betreuung, aber auch als Verbraucherinnen) stärker durch eine schlechte wirtschaftliche Lage und die daraus resultierenden Maßnahmen betroffen als Männer.
Sie sind in den meisten Fällen die, die ihre Erwerbsarbeit reduzieren oder aufgeben, wenn andere Betreuungsoptionen ausfallen, um sich um pflege- und betreuungsbedürftige Angehörige zu kümmern. Sie agieren zudem oft als Schockdämpferinnen von Armut und stecken dort zurück, wo sie können, um vor allem ihre Kinder davor zu schützen. Preiserhöhungen, Engpässe bei Nahrungsmitteln und Medikamenten durch höhere Zollgebühren und größere Handelshemmnisse würden als Folge daher Frauen direkter belasten als Männer.
Selbst im Hinblick auf den Zugang zur Justiz sind Frauen benachteiligt. Wenn Mittel für Frauenhäuser und Beratungseinrichtungen gekürzt werden, haben sie weniger Möglichkeiten, auf Hilfe zurück zu greifen (wie zum Bespiel in Fällen von Gewalt durch (Ex-) Partner). Kommt es zudem zu Kürzungen im Bereich der rechtlichen Unterstützung oder auch bei Polizei und Gerichten, wird es für Frauen zunehmend schwer, Gerechtigkeit zu erreichen.
Ganz besonders bitter wird der Stopp von direkter Unterstützung aus der EU. Über Programme wie „Daphne“, „Rechte, Gleichstellung und Unionsbürgerschaft“ sowie die europäischen Sozial- und Struktur- und Investmentfonds wurden Frauen und das Ziel der Gleichstellung der Geschlechter im ganzen Land unterstützt. Vor allem Frauenrechts- und Hilfsorganisationen in sozial schwächeren Regionen des Landes werden Schwierigkeiten haben, ihre Programme ohne diese Förderung aufrechtzuerhalten. Bisher ist nicht bekannt, wie die britische Regierung diese finanzielle Lücke ausgleichen will.
Der Tag des Ausstiegs ist nun gekommen. Im ersten Jahr nach diesem, während der Übergangsfrist, wird sich für die Bürgerinnen und Bürger zunächst nicht viel ändern. Diese Zeit muss die britische Regierung nutzen, die von zahlreichen Organisationen vorgebrachten Risiken ernst zu nehmen. Will sie dafür sorgen, dass ihre Bürgerinnen und Bürger weiterhin in einem weitestgehend gleichgestellten Land leben können? Will sie dafür sorgen, dass Gleichstellung nicht auf dem Stand von 2019 stehen bleibt, sondern sich weiterentwickelt? Dann muss sie heute reagieren.
Sie muss die bisher aus der EU übernommenen Vorschriften sichern, Rückschritte ausschließen und den Frauen und Frauenrechtsorganisationen die Unterstützung zusichern, die sie in Zukunft benötigen. Dies betrifft auch den weiteren Austausch mit europäischen und weltweiten PartnerInnen, um eine potentielle Isolierung und damit einen potentiellen Stillstand zu verhindern. Die Mitarbeit der Organisationen in allen weiteren Plänen wird der Schlüssel zu Politiken sein, die erfolgreich für alle Bürgerinnen und Bürger sein können. Eine nationale Strategie zur weiteren Gleichstellung, die alle Bürgerinnen und Bürger im Auge haben, muss erarbeitet werden. Dazu gehört auch ein gender-Kapitel, welches in den kommenden Handelsabkommen verbindlich eingeführt werden muss, um Rückschritte im Bereich der ArbeitnehmerInnenrechte oder der Gleichstellungsstandards im Zeichen der Deregulierung zu verhindern. Und dazu gehört auch die Ratifizierung der sogenannten Istanbul Konvention in ihrer Gänze - als ein Bekenntnis zur europaweiten Arbeit gegen Gewalt gegen Frauen.
Die Verhandlungen rund um den Brexit haben viel Aufmerksamkeit gebunden. Es ist Zeit, diese wieder auf die Menschen zu legen. Großbritannien wird uns in der EU fehlen. Die gemeinsame und grenzüberschreitende Arbeit für die Gleichstellung der Geschlechter und Frauenrechte muss bleiben.
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